Tsingtau – die Azurne Insel

Die Besetzung der Kiautschou-Bucht 1897/1898

Frank Käser (Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr)

Mit einem eigenen Stützpunkt wollte sich das Deutsche Reich unabhängig von den Marinestationen und vom Wohlwollen der anderen Großmächte machen und eine eigene Einflusssphäre in China aufbauen. Als sich China auf dem Verhandlungsweg nicht zur Überlassung eines Pachtgebietes an das Deutsche Reich bewegen ließ, wartete die deutsche Führung einen günstigen Augenblick ab, um sich gewaltsam eines Territoriums in China zu bemächtigen.

Die Legitimation für ein gewaltsames Vorgehen bot sich schließlich im November 1897 durch die Ermordung zweier deutscher Steyler Missionare im Verwaltungsbezirk Juye in der Provinz Schantung. Das Deutsche Reich übte seit 1890 den Schutz über die Steyler Mission in China aus, reagierte umgehend und ließ die Kiautschou-Bucht vom Ostasiengeschwader unter Konteradmiral Otto von Diederichs (1843-1918) besetzen. Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Bernhard von Bülow (1849-1929) rechtfertigte das Vorgehen des Deutschen Reiches in China gegen Kritik im Reichstag am 6. Dezember 1897 mit den Worten: "Wir wollen niemanden in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne".

Verhandlungen über chinesische Kompensationsleistungen für die Morde an den deutschen Missionaren und über das von Deutschland besetzte Territorium führten am 15. Januar 1898 zur Beilegung des Missionszwischenfalls von Juye und am 6. März 1898 zur Unterzeichnung eines Pachtvertrages zwischen China und dem Deutschen Reich. Dieser Vertrag beinhaltete die Pacht der Kiautschou-Bucht durch Deutschland auf 99 Jahre und die Errichtung einer deutschen Interessenssphäre durch Baurechte, die den Eisenbahn-Bau und den Bergbau in der Region betrafen. Dieser Vertrag gehört zu den vielen „ungleichen Verträgen“, mit denen ausländische Mächte versuchten, sich in China politische Einflusszonen, militärische Stützpunkte und Handelsvorteile zu sichern.

Das deutsche Pachtgebiet Kiautschou mit dem Verwaltungssitz Tsingtau

Das Pachtgebiet Kiautschou wurde vom Reichsmarineamt verwaltet. Hierfür war Konteradmiral Alfred von Tirpitz (1849-1930) verantwortlich, der sich als Staatssekretär des Reichsmarineamtes die Zuständigkeit für das neue deutsche Pachtgebiet in Ostasien von Kaiser Wilhelm II. persönlich erbeten hatte. Vor Ort wiederum war ein Marineoffizier als Gouverneur sowohl Befehlshaber des deutschen Militärs als auch Vorgesetzter der zivilen Dienststellen und unterstand dem Staatssekretär direkt.

Als Verwaltungshauptsitz wurde die Ortschaft Tsingtau gewählt, da sie nahe am Wasser lag, die Bucht nach Einschätzungen von Experten ausreichende Wassertiefe für Großschiffe aufwies und somit als Hafen- und Handelsplatz entwickelt werden konnte. Das kleine Fischerdorf Tsingtau wurde in den folgenden Jahren zu einer musterhaften deutschen Stadt entwickelt, die den inoffiziellen Namen "Klein-Berlin" führte und im Jahre 1913 auf einer Fläche von 20 qkm ungefähr 60.000 Menschen beheimatete. Die Stadt war jedoch von Beginn an in zwei Teile segregiert, einem Viertel für Personen aus Europa, den USA und Japan, deren Anteil in Tsingtau ca. 10% betrug, und einem Stadtteil für Chinesen.

Als deutscher Marinestützpunkt war Tsingtau Heimat des III. Seebataillons. Nicht nur die Anwesenheit des deutschen Militärs sorgte anfangs dafür, dass Tsingtau eine "Männergesellschaft" war, sondern auch die Gegenwart fremden Militärs, die stets nur temporär ansässigen deutschen Beamten der Marineverwaltung, Junggesellen, die ihre geschäftliche Zukunft in einer vielversprechenden Stadt sahen, und einheimische Arbeiter, die die Stadt nach deutschen architektonischen Vorstellungen und Bauvorschriften aufbauten.

Zu den wichtigsten Bauvorhaben der öffentlichen Hand im Pachtgebiet können dabei der Große Hafen und der Bahnhof, die Bahnstrecke Tsingtau-Kiautschou, das Verwaltungsgebäude des Gouvernements, eine Hochschule, ein Krankenhaus, ein modernes Kanalisationssystem und ein öffentliches Straßennetz gezählt werden. Die Eisenbahnstrecke Tsingtau-Kiautschou konnte bereits 1901 in Betrieb genommen werden, der Weiterbau bis nach Tsinan erfolgte bis 1904. Damit konnte eines der wichtigsten Infrastrukturprojekte des Reichsmarineamtes zur politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Durchdringung der Region abgeschlossen werden.

Deutschlands "Platz an der Sonne"?

Tsingtau war zeit seiner Existenz eine „Zuschusskolonie“ des Deutschen Reiches, da staatliche Investitionen in das Pachtgebiet regelmäßig die Einnahmen überschritten. Freilich musste in die künstliche Stadt Tsingtau zunächst investiert werden, doch auf Dauer erwies sich das gesamte Pachtgebiet als Verlustgeschäft.

Zum Vergleich: In 17 Jahren wurde Kiaotschou mit 160 Mio. Mark bezuschusst, während die Einnahmen nur 36 Mio. Mark betrugen. Das gesamte Baumaterial für öffentliche Bauprojekte wurde aus Deutschland eingeführt, wodurch die regionale Wirtschaft nicht beteiligt war, während deutsche Unternehmen an Tsingtau gut verdienten. Einheimische Chinesen wurden lediglich als billige Arbeitskräfte herangezogen, während chinesische Unternehmen an den Eisenbahn- und Bergbau-Gesellschaften finanziell nicht teilhatten. Darüber hinaus muss auch bedacht werden, dass einerseits chinesische Bauern enteignet worden waren, um das deutsche Kolonialprojekt umzusetzen, und andererseits durch den Eisenbahn- und Bergbau massiv in die Lebenswelt der einheimischen Bevölkerung eingegriffen wurde.

Als sich gegen die deutsche Kolonialpolitik Widerstand regte, reagierte das deutsche Gouvernement Kiautschou mit „Strafaktionen“. Gleichzeitig ließen sich Industrievorhaben im Pachtgebiet nicht realisieren, Tsingtau blieb eine Hafen- und Handelsstadt, deren Wertschöpfung und Kaufkraft im Vergleich zu anderen Pachthäfen der Zeit gering blieben, während die Stadt aufgrund der Landordnung von 1897 zu einer der teuersten, aber auch „saubersten“ Städte der Region avancierte. Lediglich kleinere Privatunternehmen (Seifenfabrik, Ziegelei, Brauerei) und private Geschäfte wirtschafteten erfolgreich, während staatlich geförderte Gesellschaften (Eisenbahn, Bergbau, Werft) unrentabel blieben und den Absprung aus der staatlichen Subventionswirtschaft nicht schafften.

Um das Jahr 1905 lässt sich in der Entwicklung Tsingtaus allerdings eine Wende feststellen, die in mehrfacher Hinsicht bedeutungsvoll war. Nach den Strafexpeditionen und Eingriffen der deutschen Truppen im „Boxer-Krieg“ wurde Gewaltpolitik allmählich verdrängt, um die Vorbildfunktion der deutschen Präsenz in der Region herauszustreichen. In diesem Zusammenhang wurde die Rassentrennung in Tsingtau langsam aufgegeben, bis sie unter dem Einfluss der Chinesischen Revolution von 1911, die zur vermehrten Ansiedlung von Vertretern der Qing-Dynastie in Tsingtau führte, im Jahre 1914 durch eine neue „Ansiedlungsbestimmung“ gänzlich ersetzt wurde. Der Vorbildfunktion der „Musterkolonie“ wiederum versuchte das Deutsche Reich durch eine aktive Kulturpolitik in den Bereichen Bildung und Erziehung gerecht zu werden. Als wichtigstes und sichtbarstes Projekt kann hierbei die deutsch-chinesische Hochschule angesehen werden, die 1908 gegründet wurde und im Jahre 1914 über 400 Eleven beherbergte.

Mit dem Jahr 1905 ist auch das Ende des Russisch-Japanischen Krieges verbunden, aus dem Japan siegreich hervorging. Durch die neue Position, die Japan durch diesen Krieg erlangt hatte, geriet das Deutsche Reich in zunehmende Konkurrenz und schließlich Rivalität mit japanischen Interessen auf dem Festland. Zwar konnte das Deutsche Reich seinen Handel mit China über Tsingtau bis 1914 in absoluten Zahlen steigern, im Verhältnis zum japanischen Handel mit China sank dieser jedoch: Japan entwickelte sich zum wichtigsten Handelspartner für China und konnte bis 1911 seinen Anteil am Küstenhandel mit China um 190% steigern.

Japan, das durch sein Bündnis mit Großbritannien von 1902 politisch und durch das Ergebnis des Russisch-Japanischen Krieg 1905 militärisch gestärkt war, bildete eine reale Bedrohung für das Deutsche Reich. In diesem Sinne hatte der deutsche Admiralstab bereits 1902 richtigerweise festgestellt: „Es muß damit gerechnet werden, daß die Kolonie unmittelbar nach Kriegsausbruch von den überlegenen Flotten unserer möglichen Gegner in Ostasien (Zweibund, Union, England, Japan) genommen wird“. Durch den Angriff Japans und Englands auf Tsingtau 1914 fand das deutsche Pachtgebiet Kiautschou ein jähes Ende.